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erscheint am 24. Oktober 2025
04.10.2025
Boris Rhein im Interview: „Nicht immer nur das Schlechte sehen“
Boris Rhein im Interview:
„Die AfD steht für nichts, wofür meine Partei steht“
Hessens Ministerpräsident Boris Rhein findet, die Deutschen reden die Lage schlimmer, als sie ist. Aus dem „Herbst der Reformen“ kann seinetwegen auch Winter werden.
Herr Ministerpräsident, warum hört man überregional eigentlich so wenig von Ihnen?
Da haben Sie schlecht recherchiert. Das letzte überregionale Interview ist vor wenigen Tagen bei der Mediengruppe Bayern erschienen.
Das haben wir natürlich wahrgenommen, hin und wieder melden Sie sich zu Wort,so wie bei der Wiederaufrüstung oder der Erbschaftsteuer. Andere Ministerpräsidenten setzen aber viel häufiger Themen und äußern sich auch zu Personaldebatten. Haben Sie auf die keine Lust?
Aus Personaldebatten halte ich mich in der Tat heraus. Ich konzentriere mich lieber auf die wichtigen Themen, auf gute Politik und gutes Regieren.
Das wünschen sich viele auch vom Kanzler. Er hat einen „Herbst der Reformen“ angekündigt, dabei kommen die Ergebnisse der Sozialstaatskommission erst im nächsten Jahr. Hat Merz zu hohe Erwartungen geweckt?
Hinter uns liegen dreieinhalb verlorene Jahre der Ampelkoalition. Die Unzufriedenheit der Menschen ist groß, sie wollen schnelle Ergebnisse. Dafür haben sie die Union bei der Bundestagswahl zur stärksten Kraft gemacht. Aber natürlich kann eine neue Bundesregierung den Schaden nicht innerhalb von dreieinhalb Monaten korrigieren. Die neue Bundesregierung unter Führung von Friedrich Merz hat den Hebel schon umgelegt. Schauen Sie sich den Innenminister an: Jahrelang haben wir auf Ministerpräsidentenkonferenzen mit der Ampel darum gerungen, dass die irreguläre Migration in ordentliche Bahnen gelenkt wird. Mit Alexander Dobrindt gibt es endlich mehr Abschiebungen, vor allem von Straftätern, Zurückweisungen an den Grenzen und ein Aussetzen des Familiennachzugs. Diese Koalition steht für den Politikwechsel. „Wir schaffen das“ war gestern, „wir machen das“ ist heute.
Abseits der Migration ist der Politikwechsel weiter nur ein Versprechen.
Das sehe ich anders. Mit dem Sondervermögen Infrastruktur und weiteren Mitteln wie den Verteidigungsmilliarden zum Beispiel investieren wir in den nächsten Jahren auf Rekordniveau in unsere Wettbewerbsfähigkeit, in Modernisierung und Digitalisierung und in unsere Verteidigung. Für das Land Hessen und seine Städte und Gemeinden sind das in den nächsten zwölf Jahren rund zehn Milliarden Euro. Wir planen gerade die Details, aber klar ist: Wir werden in Straßen und Schienen investieren, in die Krankenhauslandschaft, in die Sicherheit, in Bildung und in manches mehr. Es geht jetzt vor allem darum, dass wir wieder Wirtschaftswachstum erzielen. Allein die Erhöhung des Verteidigungsetats auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts kann ein Wachstum von einem Prozentpunkt auslösen. Durch den Wachstumsbooster, den Bundestag und Bundesrat schon vor der Sommerpause beschlossen haben, werden die Unternehmen künftig schneller abschreiben können, was zu mehr Investitionen in den nächsten Jahren führen wird. Beim Wirtschaftsgipfel des Bundeskanzlers haben die Unternehmen für die nächsten Jahre Hunderte Milliarden an Investitionen angekündigt. Die Menschen werden bald merken, dass sich im Land bald etwas zum Positiven verändert.
Trotzdem: War der Begriff „Herbst der Reformen“ ungeschickt?
Mit bestimmten Zeitangaben bin ich vorsichtig, weil ich weiß, dass die Dinge oft komplex sind und länger dauern können. Die Bundesregierung hat aber Dinge versprochen, die sie auch hält, zum Beispiel den Wachstumsbooster. Aus meiner Sicht ist es auch nicht entscheidend, ob das Reformpaket im Herbst oder im Quartal danach kommt. Es geht um Probleme, die über Jahrzehnte liegen geblieben sind. Es war deshalb richtig, Kommissionen einzusetzen, die Reformvorschläge erarbeiten, auf deren Grundlage ein großer Wurf gelingen kann. Wir müssen der Bundesregierung Zeit geben.
Je mehr Zeit sie braucht, umso größer wird bei manchen die Sehnsucht nach der Kettensäge.
Ich finde, wir haben in Deutschland oft auch ein Stimmungsproblem. Wenn ich in die Welt schaue, dann sehe ich, dass wir als Land immer noch sehr gut dastehen. Ich möchte nirgendwo anders leben als hier. Hier stimmt die Gesundheitsversorgung; in der Covid-Pandemie haben uns Deutsche viele beneidet. Auch die politische Stabilität in unserem Land ist, bei allen Problemen, immer noch enorm. Trotzdem gibt es viele Menschen, die große Freude daran haben, wenn der amerikanische Präsident mit einem dicken Filzstift Dekrete unterzeichnet, die am nächsten Tag in Kraft treten, und den Stift dann in die Menge wirft. Wollen wir das wirklich in Deutschland? Den einen mächtigen Mann mit Filzstift, der einfach mal entscheidet?
Gott bewahre, aber deutlich mehr Reformtempo wäre schon gut.
Aber doch nicht um jeden Preis! Schauen Sie sich bitte mal um: In Frankreich regiert mittlerweile der fünfte Premierminister binnen zwei Jahren, der nächste Präsident kommt vielleicht vom Rassemblement National. Auch Großbritannien hat große politische Probleme. In diesen Zeiten ist politische Stabilität, wie wir sie immer noch haben, unschätzbar wichtig. Ich glaube, eigentlich weiß das in Deutschland auch jeder zu schätzen. Aber so wie in Frankfurt jedes Jahr über den Weihnachtsbaum geschimpft wird, so wird regelmäßig auch über die Lage in Deutschland geschimpft.
„Diese Koalition steht für den Politikwechsel. ,Wir schaffen das’ war gestern, ,wir machen das’“ ist
heute: Rhein über Merz’ schwarz-rote KoalitionMaximilian von Lachner
So sehen Sie die Lage? Die Stimmung im Land ist mies, eine rechtsextremistische Partei liegt bundesweit nahe 30 Prozent und regiert vielleicht bald ein ostdeutsches Bundesland. Das kann man doch nicht mit dem Grummeln über den Frankfurter Weihnachtsbaum vergleichen!
Das ist mir zu verkürzt. Ich sprach über die Stimmung, und ich werbe für ein bisschen mehr Geduld und dafür, nicht immer nur überall das Schlechte zu sehen – vor allem angesichts einer höchst komplizierten Weltlage mit einem Krieg in Europa. Aber natürlich müssen wir jetzt schnell Reformen anpacken und die realen Probleme der Menschen lösen. Das tun wir im Bund in der Migrationspolitik, in der Wirtschaftspolitik, in der Verteidigungspolitik, in der Innenpolitik. Dass die AfD, von der Sie sprechen, so stark werden konnte, liegt an der Ampelpolitik und auch, das sage ich durchaus selbstkritisch, an der Migrationspolitik der Ampel-Vorgängerregierung. In Hessen kümmern wir uns schon länger um die Themen, die den Menschen auf den Nägeln brennen: Wir verteilen Flüchtlinge aus sicheren Herkunftsländern nicht mehr auf die Kommunen, wir machen mit unserer Innenstadtoffensive die Städte sicherer, wir haben ein Hessengeld für Steuerfreiheit beim ersten Eigenheim geschaffen, wir haben das Gendern mit Sonderzeichen in der Verwaltung und in den Schulen verboten. Das Ergebnis: Bei der Bundestagswahl hatte die AfD in Hessen eines der niedrigsten Resultate der Flächenländer.
Trotzdem spüren die Menschen, wenn die Koalition verspricht, aber nicht liefert. Wie bei der Stromsteuer, die sie nun doch nicht für alle senkt.
Wir brauchen eine Senkung der Stromsteuer für alle. Aber wir müssen sie auch bezahlen können, deshalb steht sie im Koalitionsvertrag unter Finanzierungsvorbehalt. Jetzt werden wir die Steuer erst einmal für die stromintensive Industrie senken und später dann für alle. Aber erst muss das Wachstum anspringen.
Liegt es vielleicht weniger am Wachstum als daran, dass Markus Söder sich besser durchsetzen kann als andere Ministerpräsidenten – wie bei der Mütterrente?
Markus Söder ist CSU-Vorsitzender und einer von drei Koalitionspartnern in der Regierung. Ohne die CSU gäbe es diese Koalition nicht.
Sie machen maßgeblich Angela Merkel für den Aufstieg der AfD verantwortlich. Frau Merkel hat neulich aber darauf verwiesen, dass die AfD am Ende ihrer Amtszeit nur bei elf Prozent gelegen habe. Ist der Umgang mit der ehemaligen Kanzlerin ungerecht?
Die Lage im Sommer 2015 war eine besondere, und es gehört zur Fairness dazu, die Dinge nicht nur mit dem heutigen Wissen zu beurteilen. Mittlerweile gäbe es wohl niemanden mehr, der die Grenzen in einer solchen Situation nicht schließen und Migranten zurückweisen würde. Trotzdem wäre die AfD ohne die Migrationspolitik dieser Jahre und vor allem deren Folgen nicht so groß geworden.
„Ich würde uns allen raten, die AfD lieber mit guter Politik klein zu regieren, als sie zu verbieten“:
Rhein über die Debatte über ein AfD-VerbotMaximilian von Lachner
In der Union hört man immer öfter den Satz: „Mit der AfD haben wir mehr gemein als mit der SPD.“ Macht Ihnen das Sorge?
Ich halte das für brandgefährlich. Die AfD steht für nichts, wofür meine Partei steht. In Hessen hat in dieser Woche der Verwaltungsgerichtshof entschieden, dass die AfD vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft und überwacht werden darf – aus guten Gründen. Eine Partei, die sich China und Russland andient, aus der Europäischen Union aussteigen möchte und unser Land in Armut, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit stürzen würde, muss uns große Sorgen machen. Trotzdem halte ich nichts von einem Verbot. Ich habe als hessischer Innenminister das NPD-Verbotsverfahren miterlebt; so ein Verfahren ist lang und steinig, mit offenem Ende. Ich würde uns allen raten, die AfD lieber mit guter Politik klein zu regieren, als sie zu verbieten.
Der Verwaltungsgerichtshof hat auch geurteilt, dass der Verfassungsschutz der Öffentlichkeit nicht hätte mitteilen dürfen, dass er die AfD beobachtet. Wie bewerten Sie das?
Das ist schon eine absurde Situation. Auf der einen Seite erwarten wir, dass die Verfassungsschutzbehörden offen und transparent arbeiten, und auf der anderen Seite verbieten wir ihnen, über ihre Erkenntnisse zu berichten.
Die CDU hat sich nicht nur eine Zusammenarbeit mit der AfD, sondern auch mit der Linken verboten. Neulich hat der ehemalige hessische Ministerpräsident Roland Koch, der früher gegen Rot-Rot-Grün Wahlkampf gemacht hat, sich aber auffallend offen für Gespräche mit der Linken im Bundestag gezeigt, wenn es um nötige Zweidrittelmehrheiten geht. Waren Sie auch überrascht?
Wir müssen mit der neuen Konstellation im Bundestag arbeiten. Wenn wir in bestimmten Situationen Zweidrittelmehrheiten brauchen, müssen wir dafür Wege finden. Da wird es eine Schwelle geben, bis zu der man mit wem auch immer Gespräche führt, etwa über die Frage, wie man Parlamentsabläufe organisiert.
„Mit wem auch immer?“ Also in beide Richtungen?
Aus meiner Sicht geht es dabei immer und ausschließlich um technische Fragen. Ansonsten möchte ich weder mit der Linkspartei noch mit der AfD zusammenarbeiten.
In Thüringen hat Mario Voigt die Minderheitsregierung von Bodo Ramelow gestützt; im Bundestag hat die Linke Merz’ Kanzlerwahl im zweiten Wahlgang ermöglicht. Gilt die Äquidistanz trotzdem noch?
Ohne Wenn und Aber. Ich bin ein Politiker der bürgerlich-konservativen Mitte, und für die CDU sind Koalitionen weder mit der Linkspartei noch mit der AfD denkbar.